Wie alles begann…

Eine Reise zu Korczak

Manche Dinge entwickeln ein Eigenleben, wenn sie einmal in der Welt sind. Vor unserer Reise nach Warschau und Treblinka stand das Projekt Korczak200, während dessen die bekannten Namen der Waisenkinder Korczaks graviert und auf Fliesen gebrannt wurden.

Und davor?

Es begann mit einem Gespräch auf dem Schulhof zwischen mir und Herrn Sponfeldner: Sag mal, kannst du nicht die Namen der Kinder Janusz Korczaks herausfinden? In der Gedenkstätte Yad Vashem haben sie keine Listen. Herausforderung angenommen! Aber an wen wendet man sich in einem solchen Fall? Im Zweifelsfall einfach an alle, von denen man annimmt, dass sie etwas wissen könnten oder jemanden kennen, der es wissen könnte. Also habe ich die deutsche Korczakgesellschaft angeschrieben, den herausgebenden Verlag der Werke Janusz Korczaks, die Memory of Treblinka Foundation in Polen und das Korczakianum in Warschau. Überall gab es Aufmerksamkeit für das Projekt, das zu diesem Zeitpunkt nur aus zwei vagen Punkten bestand: Herauszufinden, wie die rund zweihundert Kinder hießen und ihr Andenken in künstlerischer Form mit den Schülern der Schule zu verarbeiten.

Über die Datenbank der Memory of Treblinka Foundation, die im Internet öffentlich zur Verfügung steht, konnte ich mehr als einhundert Namen finden, die mit dem Suchbegriff Korczak verbunden sind. Eine Liste mit Namen erreichte mich per Mail vom Korczakianum.

Dann begann die Detektivarbeit, die spannend, ermüdend und von Zweifeln geprägt war. Einige Namen und biographische Daten stimmten überein; Erwachsene – zumeist das Personal des Waisenhauses – waren über ihr Alter identifizierbar. So weit, so leicht. Dann folgten die Namen, die manchmal nur in der Schreibweise leichte Unterschiede aufwiesen. Wie sollten sie in unserer Liste aufgeführt werden? Mit beiden Schreibweisen, jeder als eine eigenständige Person? Machte ich da gerade aus einem Jungen zwei? Man darf nicht vergessen, dass die Aufzeichnungen aus dem Waisenhaus zerstört worden sind, manche Kinder als Waisen keine „bürokratische Vorgeschichte“, keine Geburtsurkunden hatten. Ich wollte nicht, dass sich Fehler einschleichen oder unser Projekt „angreifbar“ wurde, weil es nicht die richtigen Namen enthielt oder andere unterschlagen wurden.

Von manchen Kindern bleiben uns nur die Vornamen oder ein Kosename. Das genaue Alter oder der Geburtsort als biographische Details sind Ausnahmen. Es gibt ein einziges Foto, das einem Kind zuordenbar ist: Ditka Zylbermehl. Die Schwarz-Weiß Aufnahme zeigt sie im Profil mit einem Pagenkopf, ein Haarschnitt, der damals in Mode war. Ihr Bild hing in meinem Büro, als ich mich mit den Listen beschäftigt habe. Ich wollte nicht vergessen, dass es bei der Suche nach Namen immer um Menschen geht, die gelebt, Träume und Ängste hatten.

Und hier verzweigt sich die Geschichte.

Ein Strang handelt vom Weg, den wir alle zurücklegten, um aus den Namen der Kinder etwas Bleibendes zu machen. Im Falle von Zweifeln hilft es, sich mit anderen zu beraten. Also traf ich mich mit der Keramikerin Frida Nottrott und schilderte ihr das Projekt und die Suche nach einer angemessenen Form für dessen Umsetzung. Was im Nachhinein so geradlinig und selbstverständlich klingt, brauchte eine Reihe von Kaffees und Skizzen: Wir gravieren die Namen der Kinder auf Kacheln, ausgeführt und gestaltet von den Schülern und hängen sie als Fries, der in der Schule seinen Platz finden soll. Hundert Kindernamen, hundert Kacheln, jede im Format von zwölf mal zwölf Zentimetern. Vor dem geistigen Auge entstand das Bild einer Mauer mit Kacheln, bunt und geometrisch angeordnet. Das Bild wirkte und wir vereinbarten die Termine für den Oktober und Dezember 2020. Ein Projekt schreibt sich selbst in den Alltag ein; beim Überlegen, Hin- und Herschieben von Gedanken fiel uns ein, dass wir auch für die ungekannten und unbenannten Kinder eine Spur hinterlassen wollen. Welche Entsprechung gibt es für diejenigen, deren Namen man nicht kennt? Wir fanden die liegende Acht, das Symbol für die Unendlichkeit für jedes Kind ohne Namen. Gemeinsam mit der Jahreszahl 1942 bietet es ein Paradox: Unendlichkeit und ein präzises Datum. Dieser Gedanke kam mir erst später. Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile.

Ein zweiter Strang der Geschichte entsprang aus einem Nebensatz in der Mail von Pawel Sawicki, dem Koordinator der Memory of Treblinka Foundation vom März 2019. Es war die Information, dass monatlich eine Zeremonie in der Gedenkstätte Treblinka stattfindet, während der die Namen der Opfer verlesen werden, verbunden mit der unverbindlichen Einladung, daran mit unseren Schülern teilzunehmen. Ich habe das erst einmal als möglichen Teil des Projektes zurückgestellt; die ersten Einschränkungen durch die Coronapandemie begannen in Kraft zu treten und eine Reise mit unseren Schülern musste sich erst noch einen Weg in meinem Kopf bahnen.

Je mehr ich mit dem Projekt in der Schule zu tun hatte, sei es in der Vorbereitung, im Gespräch mit Kollegen, beim Gestalten der Kacheln, um so richtiger erschien mir der Gedanke, dass wir noch weiter gehen können mit dem Projekt. Dass wir das Schulgebäude damit verlassen und uns einer Reise aussetzen sollten.

Beide Stränge laufen zusammen in mehr als einem Punkt. Eine der Gemeinsamkeiten ist das Geld, die Fördermittel, um die Aktionen zu ermöglichen: Honorare, Material, Brennkosten für die Kacheln. Unterkunft, Verpflegung, Mietwagen für die Reise.

Zeit für Geld. Zeit, um Gremien zu überzeugen, das unsere Anliegen es wert sind, gefördert zu werden. Möglichst eindrücklich und konsistent das Projekt auf einer halben Seite zu beschreiben, positive Nebeneffekte aufzuzählen, auf den möglichen Ausgleich von Nachteilen bei unseren Schülern hinzuweisen.

Zeit, um herauszufinden, wer wann tagt. Wann welche Person Auskunft über die Entscheidung geben kann. Zeit, den „vorzeitigen Maßnahmebeginn“ zu beantragen, damit alle Ausgaben auch am Ende wirklich erstattet werden. Ein solches Projekt ist schwierig, aber möglich, wenn man sich hartnäckig zeigt. Uns halfen die Fonds, die als Antwort auch die Coronapandemie aufgelegt wurden und die mit viel Geld und sehr knappen Fristen arbeiteten: Wenige Antragsteller konnten dem entsprechen und wir waren mit unserer Fahrt erfolgreich. Jede Zusage ist – für kurze Zeit – wie ein Sieg; wir haben es geschafft, wir können mit dem Projekt beginnen. Es herrscht das Gefühl – dauerhaft – dass zu viel Energie für die Geldsuche und die Abrechnung verwendet wird. Ein Zustand dauerhafter Rechtfertigung, der immer schwerer zu ertragen ist.

Die Kacheln waren im November 2020 graviert und bis Februar 2021 gebrannt. Insgesamt 36 Schüler und Erwachsene beteiligten sich an der Arbeit. Die Gespräche während des Schaffens waren interessant; die Mitarbeit war freiwillig und der Teilnahme ging eine Schulstunde voraus, in der ich das Anliegen und den historischen Zusammenhang erklärte. Die Absurdität, Menschen in wert und unwert einzuteilen, war für alle Gruppen greifbar. Was wäre wenn… wären Schüler unserer Schule, mit ihren Auffälligkeiten, dieser Einteilung entkommen? Wären sie „wert“ gewesen, hätte man ihnen Würde und Leben zugestanden?

Interessant war auch die Diskussion um die Gestaltung selbst. Am Anfang stand ganz oft die rückversichernde Frage: „ Mache ich das so richtig?“. Natürlich machst du das richtig. Es ist deine Kachel, deine Idee, dein Entwurf! Spätestens bei der dritten Kachel war diese Frage vergessen und es herrschte stille Geschäftigkeit. Mehrmals haben wir diskutiert, ob man etwas Positives auf die Kacheln gravieren kann; ein lächelndes Gesicht, ein Smiley. Warum nicht, Kinder lachen, empfinden Freude. Wer möchte einen Smiley als „Lachen über die Kinder“ missverstehen?

Für die Grundschulklassen, bei denen es schwerer gewesen wäre, sie mit solchen Gedankenspielen zu konfrontieren, gab es einen eigenen Workshop. Sie gestalteten Kleeblätter aus Keramik und machten sich mit ihren Lehrerinnen Gedanken zum Thema Glück. Sie bekamen eine eigene Ausstellungseröffnung, stilecht mit Vernissage.

Der Name Janusz Korczak ist in Deutschland wenig bekannt. Die, die ihn kennen, erzählen oft im Zusammenhang mit seinem Namen von seiner Aufrichtigkeit in der Weigerung seine Zöglinge zu verlassen um sich selbst zu retten, als es an den Transport im August 1942 nach Treblinka ging. Drei Dinge gingen mir während des Projektes durch den Kopf, die auch einen Einfluss auf den weiteren Verlauf hatten.

Erstens: Janusz Korczak war der erste, der im 20. Jahrhundert Rechte für Kinder einforderte. Bis hin zum Recht auf den eigenen Tod. Ein Kind sollte nicht den Eltern gehören und, sollte seine Zeit gekommen sein, auch sterben dürfen. Die Forderungen Korczaks, die sich auch in der Selbstverwaltung der Waisenhäuser und den Artikeln der Kinderreporter – Grammatik und Rechtschreibung traten zurück hinter den Fakt, dass die Anstrengung des Kindes zählt – waren damals unerhört; die Empörung der Erwachsenenwelt waren ihm sicher.

Zweitens: Janusz Korczaks Projekte hätten ohne Stefania Wilczynska nie stattfinden können. Sie war die Frau, die über Jahrzehnte den Alltag des Waisenhauses regelte, ihm ermöglichte, Radio zu machen, Bücher zu schreiben und Vorträge zu halten. Auch sie ging mit den Kindern nach Treblinka. Beide sind zu nennen, wenn es um die Pädagogik Korczaks ging.

Drittens: Geblieben ist der Name Korczaks, verbunden mit seiner Entscheidung, mit auf den Transport zu gehen. Ihm selbst wäre die Fixierung auf seinen Namen wohl er peinlich gewesen. Aber sein Name gab uns die Möglichkeit, weitere Namen zu finden; die Namen der Kinder, die keine Zukunft haben durften, nicht beitragen konnten zum Lauf der Welt. So wie viele andere Ungenannte, die durch Krieg, Vertreibung, Hunger, fehlende Medikamente, auf der Flucht starben.

Wenn wir von Korczak sprechen, schließen wir die Namenlosen ein.

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